Projekte

 Fukuoka (März '13 - Juli '13)

Mein Abschlussbericht


Japan - ein Land bekannt für seine hoch entwickelte Technologie, Erdbeben, dem Samuraizeitalter und Sushi, doch glücklicherweise habe ich in dem Jahr weitaus mehr Facetten Japans zu Gesicht bekommen als diese Bilder. Meine Einstellung und Erwartungen an den Freiwilligendienst, die ich mir vor meiner Abreise gestellt habe, haben sich während der Zeit geändert und letzteres hat sich bei Weitem übertroffen. Es ist in jeder Hinsicht ein Jahr zum Lernen und Wachsen, zum Eintauchen und ein Teil des Anderenwerdens. 
 
Die zweite Hälfte meines Freiwilligendienstes setzte ich nicht in Hiroshima, sondern in einer neuen Umgebung und in einem neuen Projekt fort, nämlich in Fukuoka. Jeder neue Anfang, jede neue Veränderung waren spannend, denn ich wusste nie, was passieren und wie es sich entwickeln könnte. Als ich meinen Fuß in Fukuoka setzte, erwartete mich die erste Überraschung. Anders als in Hiroshima zuvor fand ich einen riesigen Betonozean vor mir. Ein Gewusel aus Straßen, gewaltigen Hausblöcken und Kranen umringte meine Wohngegend und keine einzige Pflanze war in Sicht. Ein ähnliches Bild zeichnete sich auch in der Umgebung meines Projektes "ESPERANZA"(spanisch "Hoffnung") aus, einer schulischen Einrichtung, wo junge Menschen im Alter von zwölf bis zwanzig Jahren ganztägig betreut werden. Kurz einige Worte vorweg: Das japanische Bildungssystem gilt als sehr hart und streng, bei dem die SchülerInnen bereits vom Grundschulalter einem enormen Erfolgsdruck ausgesetzt sind. Selbstverständlich sind nicht alle diesem Leistungsdruck gewachsen und stagnieren leistungsmäßig. Leider werden diese Schüler ungewollt "mitgeschliffen" und erfahren Angst- und Schamgefühle gegenüber Klassenkameraden, den Lehrern und selbst bei Familienmitgliedern, sodass soziale Spannungen, gegenseitige Frustration und Mobbing oftmals auftauchen und bei vielen leider nur ein Ausweg durch Suizid gefunden wird. Schülerinnen und Schüler, die in ihrer vergangenen Schullaufbahn aufgrund negativer Erfahrungen die Schule abgebrochen haben, finden bei ESPERANZA einen Ort, wo sie sich ohne jegliche Angst vor Verspottung, ständiges Vergleichen und Leistungsdruck frei entfalten und entwickeln können. Gemeinsame Aktivitäten wie Kochen, Helfen bei der Erdbeer- und Reisernte, Ausflüge und Camps bringen eine interessante Abwechslung in den Alltag hinein und sorgen ferner für einen guten Zusammenhalt in der Gruppe und Freundschaftenschließungen. Für die SchülerInnen werden die Stundenpläne speziell nach den Bedürfnissen angefertigt, deren Schwerpunkte selbstverständlich mit anderen Schulen abgesprochen sind, so dass zum Beispiel ein Abschluss von der ESPERANZA mit anderen gleichwertig ist. Von den 15 Mitarbeitern arbeiten nur fünf ausgebildete LehrerInnen Vollzeit, die anderen sind freiwillige Lehrer gewesen. 
 
Das Projekt lernte ich mit der Zeit sehr zu schätzen. In den ersten Wochen, wo aufgrund der Frühlingsferien kein Unterricht stattfand, lernte ich die Lehrer gut kennen, die mich sehr freundlich aufgenommen und in den verschiedensten Bereichen eingewiesen hatten. Nicht nur für den Englischunterricht wurde ich eingeteilt, sondern war auch für administrative Aufgaben verantwortlich, welche Abnahme von Telefonanrufen und Verfassen von Dokumenten und Briefen beinhalteten. Vor allem waren am Anfang die Telefongespräche eine leicht unangenehme Herausforderung für mich, weil mein Japanisch noch Lücken aufwies und es einiges an Überwindung kostete. Die wichtigste Aufgabe jedoch war, dass ich für die Schüler eine Bezugsperson werden sollte, was ich zu Anfang als äußerst schwierig empfunden hatte. So zeigten viele Schüler oft Desinteresse an Gesprächen, am Unterricht und an den gemeinsamen Aktivitäten und waren selbst zu den Lehrern und untereinander distanziert und zurückhaltend, was ich natürlich nachvollziehen konnte. In der ersten Zeit reflektierten wir deswegen oft gemeinsam am Nachmittag den vergangenen Tag, um etwaige Probleme zu klären. Tatsächlich wurde die Beziehung zu den SchülerInnen mit jedem vergangenen Monat besser und einige von ihnen schenkten mir sogar ihr Vertrauen, weshalb ich die Möglichkeit hatte, sie noch besser kennenzulernen und über Dinge zu reden, die über das Schulische hinaus gingen. Es wirkte sich ebenfalls positiv auf mein Wohlbefinden im Projekt aus, was zu Anfang etwas unbehaglich gewesen war. Dass sich vor allem die Schülerinnen mir öffneten, machte mich besonders glücklich und tatsächlich entwickelte sich eine Freundschaft daraus. Außerhalb des Projektes war es für mich schwierig, mit jungen Erwachsenen in meinem Alter in Kontakt zu kommen, da viele für die Aufnahmeprüfung der Universitäten beschäftigt oder bereits am Studieren waren. Bei den darauffolgenden Gruppenaktivitäten zeigten die SchülerInnen nun mehr Eifer und miteinander wurde häufiger kommuniziert. Für das Gruppenbewusstsein trugen ferner die kleinen, erheiternden Hausregeln des Schulleiters bei. So wurde jedes Mal vor Beginn des Unterrichts gemeinsam Morgensport durchgeführt und nach der Mittags- oder Kaffeepause ein Kartenspiel gespielt, welches zwei Leute für den Abwasch ausmachte. Ebenso wurde das Anwesen, was als Schule agierte, gemeinsam gereinigt, in dem jeder seinen eigenen Platz zugewiesen bekam. Die Schule hatte schon eine familiäre und vertrauliche Atmosphäre, die das Zusammenarbeiten sehr angenehm machte. Ich bewunderte die Kompetenz der LehrerInnen, deren zuvorkommende und fröhliche Art sehr. Nun etwas mehr zum Unterricht: Da der Stundenplan der SchülerInnen strikt eingehalten werden musste, konnte ich auf ihn keinen Einfluss nehmen und geplante Aktionen nur auf den späten Nachmittag verschieben. Dafür hatte ich im Englischunterricht eine Menge Möglichkeiten, die Stunden abwechslungsreicher zu gestalten. Für die Schüler war vor allem das Hören eine große Herausforderung, weshalb ich ihnen englische Märchen und Musik vorspielte, was sie mit großem Interesse aufnahmen. Als sehr positiv habe ich außerdem das Lernen in den kleinen Gruppen von zwei bis drei Schülern empfunden, wodurch gezielt auf jedes Bedürfnis und Problem eingegangen und der Schüler gefördert werden konnte. Die ersten Früchte konnte ich nach den ersten zwei Monaten bei einigen erkennen, die großen Spaß daran hatten, sich ebenfalls in den Pausen auf englisch über alltägliche Dinge zu unterhalten und somit deren Aussprache zunehmend verbesserten. Auch über deren Briefe, die teils auf japanisch und englisch geschrieben wurden, freute ich mich besonders, denn rückblickend auf den Anfang zeigten sie der englischen Sprache nur Desinteresse. Mein kleines Ziel für die SchülerInnen eine Bezugsperson zu werden, wurde übertroffen, denn wir hatten es geschafft Freundschaften und ein harmonisches Miteinander aufzubauen, worüber ich mehr als glücklich gewesen war.

Mit meiner Wohnsituation in Fukuoka war ich ebenfalls sehr zufrieden, denn ich hatte das Glück wieder bei Gastfamilien unterzukommen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Bisherige Erfahrungen mit Großfamilien fehlten mir bisher, weshalb ich mich besonders auf die erste sechsköpfige Familie freute. Meine Gastmutter, die ebenfalls der Hippogruppe zugehörig war, sorgte sich wunderbar um mich und integrierte mich sehr in das alltägliche Leben hinein. Gemeinsam wurde gekocht, aufgeräumt, gespielt und gelacht. Ihre ausgezeichneten Kochkünste bewunderte ich sehr und ich verstand mich gut mit meinen Gastgeschwistern. Allerdings war die Beziehung zu meinem Gastvater etwas unterkühlt, was aber nicht bedeutete, dass ich Probleme mit ihm hatte. Seine Vorstellungen von den Geschlechterrollen war sehr definiert, so war jede weibliche Person ihm untergestellt und zum Beispiel für den Haushalt verantwortlich. An Gesprächen war er nur selten interessiert, was ich sehr schade fand. Mehrmals hatte ich Situationen miterlebt, wo Frauen den Männern nicht gleichgestellt waren, zum Beispiel gewährten einige Restaurants nur Männern längeren Aufenthalt, sodass die Frauen vor 22 Uhr die Gaststätte verlassen mussten. Im Sprachgebrauch gab es zudem Wörter, die nur von dem männlichen Geschlecht verwendet wurden, etwa das Wort "Boku" (ich). Bei der nächsten Gastfamilie handelte es sich um einen zweiköpfigen Haushalt. Anders als bei den bisherigen Gastfamilienaufenthalten fühlte ich mich als ein vollwertiges Familienmitglied, was besonders an meiner Gastmutter lag, die mich vollkommen in ihr Herz schloss und mich wie ihre eigene Tochter behandelte. Ich bewunderte ihre liebenswerte und freundliche Art sehr, sodass mir der Abschied von ihr am meisten schwerfiel. In Japan waren Umarmungen nicht üblich, weshalb es mich derart überraschte, als sie mich wie aus dem Nichts fest in die Arme nahm und zu mir sagte, dass ich süß wäre. Obwohl ich nur zwei Monate bei ihnen wohnte, war ich der Meinung, dass es die tiefste Beziehung war, die ich in dem Jahr aufbauen konnte.
 
Mein Freiwilligendienst in Japan endete in der Zeit, in der ich der Meinung war, mich am allerbesten eingelebt zu haben. Gewiss dachte ich oft an meine Familie und wünschte sie wieder zusehen. Es war sicherlich ein guter Zeitpunkt, dass der Freiwilligendienst nun dem Ende neigte. In dem Jahr lernte, erlebte, lachte und weinte ich unglaublich viel, doch es machte mich um zahlreiche Erfahrungen reicher. Allerdings hätte ich liebend gerne meine Japanischkenntnisse noch mehr verbessern wollen und den JLPT - Test gerne absolviert, doch das nehme ich mir nun als nächstes kleines Ziel in Deutschland vor. Ein kleiner Wermutstropfen blieb also. Ich fiebere nun den Tag entgegen, an dem ich wieder zu den liebgewonnenen Menschen zurückkehren werde. Es war ein unvergessliches Jahr und ich bin froh, diesen Schritt gegangen zu sein.
 

Hiroshima (Oktober '12 - März '13)

Mein Halbjahresbericht

Seit Oktober 2012 lebe ich in Hiroshima, eine Stadt umgeben von Flüssen und Bergen, die anfänglich einer typischen japanischen Großstadt mit hohen Gebäuden, Einkaufsstraßen und Ausgehmöglichkeiten gleicht. Was zu dem Bild jedoch nicht passt, ist die Geschichte der Stadt. Zu realisieren, dass unmittelbar an diesem Ort die Erste Atombombe detoniert ist und welch unendliches Leid die Atombombenabwürfe über die Betroffenen gebracht haben, ist erschütternd. Doch trotz endlosem Leid haben die Menschen die Stadt komplett aufgebaut und Lebenswille gezeigt, was mich äußerst beeindruckt und während meines Aufenthaltes ferner geprägt hat. Das lehrreiche Orientierungsseminar in Tokyo habe ich als sehr guten Nachtrag zu dem deutschen Vorbereitungsseminar empfunden, wo detaillierter auf Aspekte bezüglich der japanischen Mentalität, Gesellschaft und des Kulturschocks, welche mir bisher erspart geblieben sind, eingegangen worden ist. Im Heimatland habe ich mich zu Japan viel belesen können und einen dreimonatigen Sprachkurs belegt. Doch reichen dieser und der zehntägige Kurs von ICYE Japan allein bei weitem nicht aus, um sich ausreichend verständigen zu können. Das ist mir vor allem bei Beginn des Projektes im Kindergarten bewusst geworden.

Mein Projekt heißt Kusunoki Nursery and Kindergarden und liegt im Stadtteil Nishihara, Hiroshima. Es ist ein privater Kindergarten, der sich im Erdgeschoss eines kleinen Wohnhauses befindet und somit auch über keinen Hof verfügt. Mit dem Zug brauche ich knapp eine Stunde Fahrtzeit. In diesem Kindergarten sind moderne Erziehungstheorien von großer Wichtigkeit, die das interkulturelle Verständnis verstärken sollen. Der Kindergarten strebt eine sehr freie und kreative Erziehung an, genauer gesagt sollen die Kinder möglichst früh mit anderen Kulturen in Kontakt kommen und nicht unter strengen Regeln aufwachsen. Die Individualität eines Kindes soll in einer Gesellschaft wie die in Japan, wo das Gruppenbewusstsein sehr stark ausgeprägt ist, nicht verloren gehen. Zudem unterstützt der Kindergarten den Wandel der Gesellschaft, dass Mütter zunehmend im Beruf tätig werden und aus der verbreiteten Hausfrauenrolle rausschlüpfen. Ich arbeite drei Tage die Woche, nämlich am Montag, Mittwoch und Freitag von 10 - 17 Uhr. An meinem ersten Arbeitstag bin ich sehr herzlich von den KollegInnen und Kindern mit einem deutschsprachigem Schild "Willkommen im Kindergarten" empfangen worden. Zu dem Zeitpunkt sind die Kinder in zwei Gruppen aufgeteilt worden und zwar in eine Bambigruppe (0-1 Jährigen) und die Schmetterlingsgruppe (1-3 Jährigen). Zu Anfang waren meine Aufgaben mit ihnen zu spielen, zu füttern und beim Einschlafen zu helfen. Um die Mittagszeit herum ist es meistens sehr hektisch, denn neben der Fütterung sollten die Kinder auch bettfertig gemacht werden, etwa 25 Kinder auf einmal! Eine weitere Herausforderung ist das Einschlafen: einige Kinder haben nur vermocht in den Armen der Erzieherinnen zu schlafen, andere haben wegen Heimweh geweint und dabei andere Kinder aufgeweckt. Also haben wir immer wieder von vorn anfangen. Wenn an Tagen die Sonne geschienen hat, sind wir auch in den nahegelegenen Park gegangen, wo sich ein Spielplatz und ein Sandkasten befinden, damit die Kinder sich gut austoben können. Neben Spaziergängen haben wir auch regelmäßig Basteleinheiten unternommen, die jedermann mit viel Eifer und Spaß durchgeführt hat, zum Beispiel das Basteln von Libellen, Weihnachtsmännern und Geschenken zu Weihnachten und vieles mehr. Die Verständigung mit den KollegInnen und Kindern ist mir zu Beginn noch sehr schwer gefallen, da sie kaum englisch sprechen und meine Japanischkenntnisse noch nicht ausgereicht haben, um ihre Anweisungen korrekt zu verstehen. Sicherlich habe ich zu Anfang auch gedacht, dass das Beibringen von Englisch eine Aufgabe wäre, immerhin ist das im "Work Profile" genannt worden, doch habe ich dieses Vorhaben gleich in den Wind geschlagen, denn viele Kinder sind in einem Alter gewesen, wo sie erst mit dem Sprechen angefangen haben und ich keinen Sinn darin gesehen habe, ihnen eine andere Sprache beizubringen, obwohl sie noch nicht einmal ihre Muttersprache sprechen können. Viel wichtiger habe ich es empfunden, zu den Kindern eine Beziehung aufzubauen und die unterschiedlichen Persönlichkeiten und Bedürfnisse der Kinder kennenzulernen. Zu Beginn sind viele sehr scheu gewesen und haben mich nicht ernst genommen, wenn ich zu ihnen gesprochen habe. Einen Grund habe ich auch bei mir selbst gefunden, nämlich meine Schüchternheit und Unsicherheit. Mit der Zeit ist mir es aber gelungen, eine Bezugsperson für die Kinder zu werden und sie respektieren mich vollends als "Erzieherin". Ich freue mich sehr darauf jedes Mal die Kinder sehen zu können, denn sie begrüßen mich jeden Morgen mit Umarmungen und lachenden Gesichtern. Selbst bei der Verabschiedung zum Feierabend fließen bei manchen Kindern Tränen. Meine Sprachkenntnisse haben sich außerdem bei weitem verbessert und ich verstehe mich sehr gut mit den KollegInnen. Sie sind sehr herzliche Menschen, verständnisvoll und entgegenkommend. Neuerdings sind zu meinen Aufgaben auch das Windeln wechseln dazugekommen, womit ich allerdings keine Probleme habe. Einmal im Monat findet im KollegInnenkreis ein Seminar und eine Versammlung statt, wo jeder den vergangenen Monat Revue passieren lässt und über Sachverhalte, Geschehnisse, Eindrücke, Veränderungen und Wünsche diskutiert. Auch ich nehme aktiv bei den Treffen teil und kann offen meine Meinung aussprechen, die von den KollegInnen sehr gut aufgenommen wird, ohne davor Angst haben zu müssen. Vorschläge bezüglich neuer Aktivitäten kommen äußerst gut an und im Seminar werden neue Erziehungstheorien analysiert und besprochen. Für den Dezember habe ich die Idee gehabt, für die Kinder ein Theaterspiel vorzutragen, welches sehr guten Anklang gefunden und den Kindern eine große Freude bereitet hat. Andere Aktionen, wie eine Halloween- und Weihnachtsparty, Basteln eines Adventskalenders, Lesen von Märchen, Singen von deutschen und vietnamesischen Liedern und ebenso Kindertänze sind meine kleinen, persönlichen Erfolge, die mir auch helfen, mich weiterzuentwickeln. Mein größter Erfolg, so denke ich, ist die gegenwärtige, tiefe Beziehung zu den Kindern und dass ich von ihnen als "Erzieherin" bewusst wahrgenommen werde. Dabei bemerke ich auch, dass ich mich von Zeit zu Zeit verändere, reifer, selbstständiger werde und ebenfalls selbstbewusster auftrete. Ich habe nicht gedacht, dass die Kinder mich bezüglich der Kreativität so motivieren, aber ich bin oftmals überrascht, auf welche Ideen ich kommen kann. Selbst im Umgang mit den Kindern habe ich nun eine andere Wahrnehmung. Es nützt nichts, einem Kind etwas wegzunehmen, was es nicht in den Händen halten darf. Ich muss versuchen, mit dem Kind so zu kommunizieren, dass es mir freiwillig den Gegenstand in die Hand gibt beziehungsweise aufhört, unartige Dinge zu machen. Es hat aber auch Situationen gegeben, wo ich fast an meine Grenzen gestoßen bin, weil die Dinge nicht funktioniert haben, so wie ich es mir vorgestellt habe. Doch die Erzieherinnen unterstützen mich da sehr und bringen mir viele Dinge bei. Für die verbleibende Zeit im Projekt habe ich noch einige Ideen, die ich gerne verwirklichen möchte, denn es macht mir eine große Freude, die Kinder lachen und staunen zu sehen, wenn sie neue Dinge aus anderen Kulturen kennenlernen und verblüfft sind, was in der, für sie großen, weiten Welt, vor sich geht.

In Hiroshima wohne ich bei einer zweiköpfigen Gastfamilie, die mich sehr herzlich aufgenommen hat. Die Wohnsituation ist aber dennoch etwas Besonderes, denn ich habe ein gesamtes Haus allein zur Verfügung. Meine Gasteltern wohnen nämlich nur eine Minute vom Haus entfernt. Am Anfang habe ich mich mit der Wohnstätte gar nicht anfreunden können, alles ist so groß gewesen und ich habe mich einsam gefühlt. Schließlich habe ich niemanden gekannt und meine Gasteltern sind mit der Hippoaktivität sehr beschäftigt gewesen. Allerdings hat sich das in kürzester Zeit geändert, denn ich habe eine Freizeitaktivität, nämlich den Hippo Family Club, gefunden und dort sehr viele nette Menschen kennengelernt und Freundschaften geschlossen. Der "HFC" ist eine Gruppe von Menschen, die sich mittels Tonbändern, Liedern und Übungen neue Sprachen aneignen und sich sehr für den kulturellen Austausch interessieren. So nehmen sie regelmäßig Menschen aus anderen Ländern bei sich auf oder gehen ins Ausland. Während meines Aufenthaltes haben meine Gasteltern auch andere Personen bei sich willkommen geheißen, so dass ich mein Haus von Zeit zu Zeit mit anderen teilen musste, was ich im Ganzen keineswegs als Problem empfunden habe. Im Gegenteil sogar, somit habe ich Freundschaften mit Menschen schließen können, die weit weg über Japans Grenzen hinaus wohnen, und neue Kulturen kennengelernt beziehungsweise auch von meinen bisherigen Erlebnissen berichten können. Die Verständigung und die Beziehung zu meinen Gasteltern ist von Anfang an sehr gut gewesen, denn sie sprechen sehr gut englisch und zu meiner Verblüffung auch deutsch, weshalb ich mich auf Anhieb sehr wohl gefühlt habe. Dennoch versuchen wir uns auf japanisch zu kommunizieren, damit mein Lernprozess unterstützt wird. Ich habe mich hier sehr schnell einleben können und nehme das Leben hier auf eine andere Weise wahr, nicht aus der Sicht einer Touristin. Ich achte mehr, umso länger ich hier lebe, auf Kleinigkeiten, die ich am Anfang glatt übersehen habe. Als Ausländerin falle ich zudem aufgrund meiner vietnamesischen Herkunft allgemein nicht auf und kann in der Masse abtauchen. Viele Menschen sind verblüfft, wenn ich ihnen erzähle, dass ich keine Japanerin bin. Keineswegs ist zu bestreiten, dass mich das Leben hier bereits beeinflusst hat, vom Charakter her und bezüglich einiger Ansichten auf die Gesellschaft, Erziehung, Politik und auf das Umweltbewusstsein. Vor allem hinsichtlich des Individualismus habe ich erkannt, welch große Bedeutung das Gruppendasein hier hat oder auch warum Japan eine der höchsten Selbstmordraten der Welt besitzt. Mir ist bewusst geworden, dass der Ort, so gut wie ich mich auch eingelebt habe, nicht meine Heimat ist und ich viele Dinge erst mit diesem Aufenthalt zu schätzen gelernt habe. Selbst Lebensmittel, wie Obst und Milchprodukte, haben hier einen anderen Stellenwert als in Deutschland. Aufgrund des hohen Preises ist ein alltäglicher Genuss nicht üblich. Wenn ich das Wort "Lernen" ohnehin anspreche: In meinem  Freiwilligendienst habe ich bereits einen langen Lernprozess durchlaufen, der längst noch nicht abgeschlossen ist. Meine anfängliche Einstellung nur helfen zu wollen, hat sich geändert, denn erst durch das Lernen und Verstehen der Mentalität, Bedürfnisse der Menschen, des Alltagslebens und vieler anderer Sachen, habe ich auch außerhalb des Projekt Dinge bewirken können. In Bezug auf aktiver Friedensarbeit habe ich durch die Teilnahme als "Junior Writer" bei der Chugoku Shimbun (Zeitung), wo ich im Projekt "Atombombengeschichte" freizeitmäßig mitwirke, die Möglichkeit bekommen, mich mit der Frage der Notwendigkeit eines Krieges und die Bedeutung des Friedens genauer zu beschäftigen, indem wir beispielsweise Menschen besucht haben, die noch heute an den Folgen der Atombombe leiden und ihre Erinnerungen in Berichte festhalten, damit diese Schicksale nicht in Vergessenheit geraten. Die zweite Hälfte meines Freiwilligendienstes wird in einer anderen Stadt und in einem neuen Projekt stattfinden. Ich denke auch, dass es eine tolle Möglichkeit ist, eine neue Erfahrung zu machen, ein neues Ambiente zu erleben. Februar 2013